Mehr Kultur, weniger Menschenspur
Ich bekenne mich schuldig.
Bin Teil des Problems, von Overtourism. Zahlreiche Sehenswürdigkeiten streiche ich von meiner Bucket List. Und es stehen noch viele oben.
Argumentiere zumindest damit, dass ich Attraktionen in der Nebensaison besucht habe. Oder in Zeiten, wo die Betreiber froh auf Gäste waren.
Venedig, Amsterdam, Hallstatt. Alles Trophäen in meiner Sammlung. Nachhaltiger Tourismus geht anders.
Schenk mir 9 Minuten deiner Zeit und du erfährst in diesem Artikel alles über Overtourism:
- Welche Folgen Overtourism hat
- Warum es höchste Zeit zum Umdenken ist
- Wie du etwas dagegen unternimmst und wie du dir, deinen Kindern und Enkelkindern entspanntes Reisen schenkst
Overtourism sprengt Grenzen
Sommer 2020. Bis zu den letzten Tagen vor unserem 3-wöchigen Urlaub buchen wir nichts. Wissen nicht, was möglich ist. Welche Sommerpläne das Virus in der Tasche hat.
Ein paar Leckerbissen schwirren in unseren Köpfen. Ja. Orte, wo sich in „normalen“ Zeiten Menschenmassen die Klinke vom Klo in die Hand geben. Wir haben Glück.
Overtourism ist ein junges Phänomen – erst 2018 reichte der britische Journalist Greg Dickinson den Begriff beim Collins Dictionary ein. Die UNWTO ergänzt das Spiel um die touristische Tragfähigkeit (carrying capacity).
Fußballstadien haben Kapazitäten – Orte auch. Da gibt es allerdings keine Sitzplätze. Emotionen kochen ebenso:
Wie lange unterstützen Einheimische den Tourismus?
Ab wann nerven Gäste?
Auf die Tribüne eines kleinen Fußballplatzes passen wenige Personen – in die Allianz Arena in München 75.021. Genauso ist es mit Orten:
Die Menschenmassen, die täglich Venedig besuchen, passen niemals in ein Dorf in den österreichischen Alpen. Im Gegensatz würde Venedig die 537 Besucherinnen am Tag nicht spüren.
Das Ergebnis ist das gleiche: Die Einheimischen fühlen sich mit den Touristen unwohl.
Die Frage: Ab wann herrscht Overtourism? – Pauschal nicht beantwortbar.
Erst wenn die Besucher die Grenzen sprengen, ist es für alle sichtbar.
Früher plagten sich sensible Naturökosysteme mit Overtourism – heutzutage kämpfen Städte und Kulturstätten. Kreuzfahrtschiffe sind (oftmals) die Übeltäter – Hotspots entstehen. Nicht nur in der Natur:
Ökologische Tragfähigkeit: Wie viele Leute verträgt die Natur?
Soziologische Tragfähigkeit: Wie viel Akzeptanz lauert bei den Anrainern?
Psychologische Tragfähigkeit: Wie beeinflusst das Urlauberlebnis die Gäste?
Ökonomische Tragfähigkeit: Wie entwickeln sich die Preise für Einheimische?
Die Katze beißt in ihren Schwanz: Keine Touristen bedeutet vor allem in ärmeren und strukturschwächeren Gegenden weniger Arbeitsplätze. Kein Einkommen. Kein Geld.

Masse statt Klasse
Corona genießt den Sommerurlaub. Unser erstes Ziel:
Interlaken. Übernachten in einem feinen Hotel – das nicht einmal halbvoll ist. Der Vermieter quasselt mit uns beim Frühstück, erzählt wie es ansonsten zugeht.
Internationale Gäste vergnügen sich in diesem Schweizer Schmuckstück: Inder, Araber, Amerikaner. Im Sommer 2020 ein paar Schweizer und gefühlt wir 2 Österreicher.
Indische Restaurants sperren in dieser Saison nicht auf. Für uns kein Nachteil – wir stehen auf regionales Essen.
Monate im Voraus buchen Gäste in „normalen“ Saisonen ihr Ticket für die Jungfraubahn. Wir fordern unser Glück einen Tag vorher. Dürfen uns sogar die Uhrzeit aussuchen.
Die Schönheit des Gletschers blendet uns.
Bist du ein Herdentier? Möchtest du de Dinge erleben, die dich auf Instagram begleiten? Damit du dein Foto in diese Sammlung packst? Dein Smartphone die Sehenswürdigkeit aufsaugt – während der Moment für dich nichts taugt?
Tja.
Alle anderen auch.
Reisen boomt:
Die Mittelschicht aus Schwellen- und Entwicklungsländern gönnt sich Urlaub. Wir auch. Billigairlines, Kreuzfahrtschiffe und Angebote verschärfen den Trend.
Film- und Social-Media-Tourismus kicken sich ebenso die Bälle zu:
Bei jedem steht der Strand aus „The Beach“ auf der Reise-Bucketliste. Der Kirkjufell aus „Game of Thrones“ thront nicht mehr als Geheimtipp über einem verschlafenen Ort in Island. Den Rainbow Mountain hätten wir ohne Instagram nie entdeckt. Die Folge?
Masse statt Klasse.
Massentourismus vergnügt sich auch, wenn die Tragfähigkeit einer Destination (noch) nicht überschritten ist. Wenn die Region auf brutzelnde Sardinen vorbereitet ist, spürt sie die positiven und negativen Effekte von „normalen“ Massentourismus.
Erst wenn es zu viel wird, schleicht sich Overtourism ein.
Vielleicht brodelt der Eisberg. Der Grat zwischen yeeeh und wäh ist ein schmaler.
In einem halbvollen Stadion schlummert die Stimmung. Im ausverkauften Haus kocht die Hütte. Stürmen zu viele Leute ins Fußballstadion, kommt es ins Schwanken.
Eine Klitzekleinigkeit reicht – die Massen explodieren. Genauso ist es mit Overtourism.
Das sagt die Expertin
Lea nimmt dich als familie_nachhaltigkeit auf Instagram mit zu nachhaltigen Tipps für den Alltag. Sie lüftet ihr Geheimnis Nr. 1, wie du weg von Massen- und Overtourismus zu nachhaltigem Reisen kommst:
Beispiele touristischer Hotspots & Overtourism
Ähnlich ergeht es uns ein paar Wochen vorher im Sommer 2020 am Wolfgangsee. Die Region schaffte es zuvor in die Medien:
Praktikanten schleuderten das Virus durch den Ort. Viele Gäste reisten ab. Und wir?
Wir buchen ein Zimmer, weil wir gerade jetzt anreisen möchten: Im Ort hätten wir die Rose von Jericho gehört. So wenig Touristen säumten den Weg.
Der Schafberg unser erklärtes Ziel: Marschieren zum Ticket-Schalter, kaufen und sitzen Minuten später in der Bahn. Auch hier buchst du im Normalfall Monate im Voraus.
Venedig, Barcelona, Amsterdam.
Das wars?
Leider nein.
Florenz, Palma de Mallorca, Dubrovnik, Ayer’s Rock, Kho Phi Phi, Nantes, Athen, Reykjavik, Bukarest, Budapest, Mailand, Mount Everest, Salzburg, Kilimandscharo, Machu Picchu…
Sind nur Städte und bekannte Orte von Overtourism betroffen?
Nein.
Auch Dörfer kämpfen mit Massen.
In Corona-Zeiten zusätzlich Tages-Ausflugsziele. Instagram leistet seinen Beitrag dazu:
Die malerische Rue Crémieux in Paris, der Natur-Infinitypool Gumpen in Bayern oder die imposante Hängebrücke bei der Olpererhütte. Höchstwahrscheinlich hotspotted es ebenso in deiner Nähe.
Wie du Overtourism entgegen wirkst
Mäuseschritte! Wir sind alle gefragt. Reisende und Anbieter sind eingeladen – ihre Ideen sprießen zu lassen. Wie wir Hotspots und Hot-Zeiten entschärfen. Pack dich selbst an der Nase:
- Such dir Alternativen. Vielleicht lässt du einen Finger über den Globus gleiten und wählst dein Urlaubsziel, da wo sich Land und Hand treffen?
- Buch in der Nebensaison oder zu Tagesrandzeiten. Mittag sind alle am Hotspot. Außer die Gutes-Licht-Jäger. Die strömen zu Sonnenauf- und -untergang.
- Behalte Geheimtipps für dich. Du hast einen entdeckt? Sehr gut. Poste es NICHT auf Instagram.
- Mach andere Urlauber darauf aufmerksam, wenn sie Müll wegwerfen, Blümchen pflücken oder Korallen abbrechen.
- Beachte Not-to-go-Listen.
- Nimm dir Zeit und inhaliere die lokale Kultur.
- Gönn dir Unterkünfte, wo Familien davon leben, und verzichte auf Kettenkonzerne.
Wenn funkelnde Dollarzeichen in den Augen Nachhaltigkeit weicht
Höhere Tourismuszahlen waren bzw. sind good news. In manchen Orten ändert sich das allmählich.
Zu viele Touristen zerstören den Ort, den Flair und den Charme – für Einheimische und Gäste gleichermaßen.
Dollarzeichen verblassen in einigen Regionen: Natur und Kultur schützen wandern die Wichtigkeits-Treppe hinauf. Dicht gefolgt von Respekt vor Einheimischen. Das Geheimnis:
Der Status Quo erheben und daraus Ziele für alle Beteiligten entwickeln. Eine Zauberformel gibt es nicht nicht – Möglichkeiten schon:
Gäste lenken
Gäste lenken = Freiraum schenken. Sei es durch zeitliche Aktionen oder ins Leben geholte Attraktionen. In Amsterdam brignen sie den „Amsterdam Beach“ ins Rampenlicht – die Leute pilgern zur „neuen“ Sehenswürdigkeit. 18 km vom Stadtzentrum entfernt. Das Gute?
Sie entlasten die Innenstadt. Du entdeckst neue Ecken.
Zeitlich entzerren viele Anbieter ihre Gäste mit Online-Tickets. Du ersparst dir Wartezeiten und erkundest die Attraktion, ohne dass dich mit Tablets bewaffnete Menschen durch die Gänge schieben.
Dynamische Preise
Sonnenaufgang ist teuer – dafür instagramtauglich.
Ganz klar. Wenn viele Leute das Ausflugsziel stürmen, kostet es mehr. Busgruppen und die Bestes-Licht-Einfänger bezahlen ihre Zeit – du schonst dein Geldbörserl. Und entdeckst die Attraktion – ohne Menschenmassen.
Steuern steuern Overtourism
Ja. Mit mehr Einnahmen finanzieren die Verantwortlichen nachhaltige Projekte, spannende Besucherlenkung oder öffentlichen Verkehr. Wozu?
Damit du intensiver in die Kultur eintauchst.
Zugangsbeschränkungen aufgrund von Overtourism
Das Fußballstadion ist ausgebucht. Passt kein Mensch mehr rein.
Warum sollten Sehenswürdigkeiten, Städte oder Länder uneingeschränkte Kapazitäten aufweisen?
Parkplatzprobleme entschärfen
Wenn die kein Plätzchen für mei Auto mehr habn, dann foahr i ham.
Macht niemand.
Stellplätze quillen über. Straßen sind zugeparkt. Rettungskräfte haben keine Chance, sich durch das Getümmel zu boxen. Öffentliche Verkehrsmittel rücken in den Mittelpunkt. Zugegeben. Überall kommst du mit Öffis nicht hin. Und es gibt noch Verbesserungspotenzial:
Mich schaudert vor den Gedanken an den Sommer 2022. Jeden Freitag sind die öffentlichen Verkehrsmittel im Bundesland Salzburg kostenlos – funktioniert tadellos.
Kaum schnuppere ich über die Grenzen nach Deutschland bricht das Chaos aus.
Im besagten Sommer gibt es dort ein Ticket für € 9,00 pro Monat.
Stundenlange Grenzkontrollen, technische Gebrechen, falsche Bahnsteige.
Puh.
Wenn es funktioniert, sind Öffis der Schlüssel zu weniger Chaos.
Den DAU an die Hand nehmen
Beim DAU handelt es sich um eine seltene Spezies: Den dümmst anzunehmenden User. Dieser will an die Hand genommen werden.
Nein. Späßchen.
Aufklärung ist die Zutat Nr 1. Woher sollen du und ich wissen, dass ein Ort ein Problem mit Overtourism hat?
Schautafeln, Aufklärungskampagnen, erklärende Eintrittstickets – die Fantasie läuft über die Grenzen.
Erklärt uns, warum es wichtig ist, auf den Wegen zu bleiben. Warum der Müll nicht im Gras landen soll. Warum Tiere und Einheimische keine Produkte sind.
Mäuseschritte bewirken Großartiges! Du fühlst dich wohl beim Sightseeing, verlierst dich nicht in den Menschenmassen und findest dein Glück in einer intakten Stätte.
Orte schließen
Die allerletzte Maßnahme aufgrund von Overtourism. Stätten dürfen sich regenerieren. Beispiele:
Kho Phi Phi und Gumpen.
Was passiert, wenn Overtourism mit einem Schlag erlischt
Zurück in der Schweiz. Die Wanderungen und die Bike-Touren verzaubern uns – das Essen sowieso. Die letzten Sonnenstrahlen locken uns ans Meer. Der Wettergott schickt uns ans andere Ende von Italien.
Caorle. 37 Reihen Liegestühle mit Sonnenschirmen. Sonnen uns in der 17. Reihe – vor uns freie Sicht.
Die Vermieterin steht im Türrahmen – einige Meter von uns entfernt. Italien hat es hart getroffen. Die Angst blitzt neben ihrer Maske hervor.
Dennoch verrät sie uns, wie wir am besten nach Venedig kommen: Mit dem Vaporetto. Der Markusplatz?
Menschenleer. Die Rialto-Brücke?
Lädt zum Verweilen ein. Der Trampel-Touristenpfad?
Eine normale Gasse.
Jedoch büxen wir aus. Schlendern durch Gässchen abseits der üblichen Pfade. Tauchen ein in die Kaffeehauskultur. Verzichten bewusst auf den Cappuccino am Markusplatz – der den letzten Cent aus der Geldtasche zieht.
Der Mann im Café freut sich über uns. Über die Münzen, die wir konsumieren. Keine Spur von Overtourism – auch nicht in Venedig.
Ansonsten schieben sich die Menschenmassen vom Markusplatz zur Rialto-Brücke. Machen mit einem Tablet verschwommene Erinnerungen. Keiner der Touristen schaut nach links oder rechts.
Die erstbeste Toilette entlang des tipitopi ausgeschilderten Haupt-Trampelpfades bekommt gleich viele Besucher wie das Caffè Quadri. Louis Vuitton ein paar Gassen weiter lässt die Schaufensterschauer nicht alle rein. Dafür kaufen Kreuzfahrtschiffstouristen Masken im Ramschladen – made in China.
Enttäuscht kehren die Gäste zu ihren Meeresgiganten retour – das Foto auf der Rialto-Brücke ist definitiv nicht instagramtauglich.
Corona. Erinnerst du dich?
Quietschvergnügte Delfine planschen in den Kanälen von Venedig. Unheimlich menschenleer die Getreidegasse in Salzburg. Keine Einnahmen für die Leute vor Ort. Das andere Extrem:
Undertourism. Hallstatt, Interlaken, Paris, Venedig – wir haben normalerweise überlaufene Sensationen entspannt gesehen. Ein Mittelding wäre die beste Lösung – für uns alle.
Kreative Ideen schnüren Overtourism den Weg ab
„Tourismus einschränken“, schreien Verfechter. So einfach ist das nicht.
Die Branche schafft enorm viele Arbeitsplätze. Spült Geld in die Kassen der Einheimischen. Weiniger Tourismus = weniger Einnahmen.
Kreative Ansätze verändern die Hotspots. Entzerren sie. Machen sie erlebenswert. Wie immer leistest du deinen Beitrag:
- Reise öffentlich an.
- Buche in der Nebensaison.
- Besuche unbekannte Orte und teile es NICHT auf Instagram.
Damit erlebst du Ausflugsziele intensiver. Spürst dich in die Kultur ein. Inhalierst das Lebensgefühl. Und ganz ehrlich.
Es geht in deiner Trophäen-Sammlung nicht um Gebäude, Denkmäler und Attraktionen. Was dein Herz füllt, ist neben dir. Begibt sich mit dir auf Entdeckungsreise. Stürzt mit dir ins nächste Abenteuer. Du wirst dich ans Gefühl erinnern, nicht an Steine:
It’s not about the places you go.
unbekannt
It’s about the people you go with.